Mittwoch, 25. September 2013

Recycling - Oder haben Sie eine eigene Meinung?

Haben Sie eigentlich einen Facebookaccount? Vermutlich schon, denn die meisten meiner Leser lernen mich über Facebook kennen. Dann kennen Sie vermutlich auch das Phänomen, das in letzter Zeit sehr beliebt ist: Zitate und Sprüche. Mit wachsender Begeisterung postet die Facebookgemeinde Zitate und Sprüche, Weisheiten und kluge Worte von Buddha, Einstein, Rumi, ... (bitte setzen Sie die Reihe hier beliebig fort) Und was da nicht alles für tolle Sachen stehen. Und munter wird das dann geteilt, anderen Menschen auf die Pinwand geposted (versuchen Sie es erst gar nicht! Bei meinem privaten facebookaccount ist die Pinwand gesperrt..!) oder es wird einfach abgeschrieben, in ein neues Kleidchen gepackt, am besten mit einem hübschen Foto und dann - ab die Post, schon veröffentlicht. Und bitte, verstehen Sie mich auch hier richtig, natürlich ist es mir lieber, jemand postet ein schönes Gedicht, einen klugen Satz von Einstein oder eine buddhistische Weisheit als die Auswüchse irgendwelcher militanter Extremisten, und ja, auch ich habe mich schon dazu verleiten lassen zu zitieren, aber wissen Sie, was ich bei mir feststelle? Solche Weisheiten verkommen zu Belanglosigkeiten. Man liest einfach darüber hinweg, macht sich auch keine Gedanken mehr dazu, zu oft hat man das schon gelesen, sieht, ach wieder nur ein Bildchen mit einem klugen Spruch. Das wirft in mir unweigerlich die Frage auf: "Hast Du denn keine eigene Meinung?" Machen wir uns nichts vor: Nicht jeder oder jede (gendern nicht vergessen, Stefan!) ist ein Rumi (übrigens ein persischer Mystiker aus dem 13. Jhdt - nur, falls Sie ihn nachher googeln wollten), der es verstanden hat, die Zusammenhänge der Welt und des Lebens in wunderschönen Worten zusammen zu fassen. Aber mich persönlich würde sehr viel mehr interessieren, was Sie oder Sie oder Sie denken, fühlen, erleben. Was, wenn Sie einen Liebesbrief schreiben, oder einen Brief, eine Email an einen anderen Menschen. Werden Sie auch nur Zitate aneinander reihen? Sicher doch nicht?! Ja, sicher, jetzt höre ich diejenigen, die sagen: "Aber XY sagt es genauso, wie ich es empfinde!" - geschenkt! Worte, die ein anderer gesagt hat, sind immer nur seine Worte, geboren aus einer Situation und einem subjektiven Erleben. Die Welt wartet aber auf Sie! Wenn wir immer mehr dazu verkommen, zu zitieren, dann verlernen wir auch, unsere eigen Wahrnehmung mit ins Bild zu nehmen. Nie werde ich meine erste Hausarbeit in deutscher Literaturwissenschaft vergessen, die ich mit "mangelhaft" zurückbekommen habe, weil der Lehrbeauftragte an der Freiburger Universität mir vorwarf zu wenig Sekundärliteratur verwendet zu haben. Auf meinen Einwand, dass es doch sicher auch positiv zu bewerten sei, dass ein Student sich seine eigenen Gedanken gemacht habe, seine eigenen Schlüsse gezogen habe und damit auch belegt habe, dass er das Buch (übrigens, es ging um "Ehen in Phillippsburg von Martin Walser) verstanden habe, wurde mir entgegnet, dass meine Gedanken keinen interessieren, ich könne mich ja wohl kaum mit profilierten Literaturwissenschaftlern vergleichen. Liegt nicht aber da schon des Pudels Kern? Werden wir nicht durch Medien, Schule, Universität, schlicht unser ganzes System dazu verleitet, unser eigenes Denken an der Garderobe abzugeben und am besten dort zu vergessen? Ist es nicht eigentlich gewollt, dass wir statt innovativ zu sein, lieber imitieren? Ganz persönlich gesehen, finde ich das furchtbar. Ich will wissen, was Menschen wirklich denken, auch wenn ich sie vielleicht "nur" über Facebook kenne und noch nie getroffen habe. Ich ertappe mich dabei, dass ich wirklich teilweise Beiträge auch enger Freunde nur überfliege, weil das 175ste Zitat von Rumi zum 42sten Mal in anderer Form veröffentlicht wird. Ja, solche Dinge SIND wichtig. Keine Frage. Aber wenn wir einen zumindest kleinen Fussabdruck in der Menschheitsgeschichte hinterlassen wollen, dann sicher nicht, wenn wir ständig das recyclen, was andere uns schon vor 1000 Jahren vorgekaut haben. Ich muss es verinnerlichen, leben, meine Schlüsse daraus ziehen und dann kann ich meine Mitmenschen daran teilhaben lassen. Die Welt braucht neue Sichtweisen, neue Erfahrungen, gerne basierend auf Weisheiten genialer Menschen, aber wenn wir vergessen, unser eigenes Herz, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen, geschieht keine Weiterentwicklung und Stillstand ist Rückschritt - nicht nur in der Welt, sondern auch in uns selbst. Wenn wir den Mut aufbringen wollen, authentisch zu leben, dann gehört dazu, dass wir wieder lernen, unserer eigenen Intuition zu vertrauen, dass wir wieder beginnen, Gehörtes oder Gelesenes in uns zu bewegen, uns unsere eigene Meinung zu bilden zu der wir stehen dürfen. Wir müssen nicht jeden Tag unendliche Weisheiten über unsere Mitmenschen ausgiessen, aber wir dürfen sie in uns entdecken, dürfen entdecken, das auch in uns Weisheit zu finden ist, zeitgemäss, aktuell. Und auch, wenn wir sie vielleicht nicht so pointiert oder poetisch ausdrücken können, wie andere, wichtig ist, wir haben den Mut, in uns zu suchen, uns zu erforschen und uns in Bezug zu dem zu setzen, was wir hören oder lesen. Dazu ist es nämlich ursprüngleich gedacht gewesen. Sicher haben das die meisten getan, die ein Zitat posten, es mit Schleifchen und Bildern versehen, aber ist das nicht nur die halbe Miete? Wäre es nicht schön zu wissen, was jemanden bewegt hat, genau dieses Zitat zu posten, was er/sie darüber denkt? Haben wir doch den Mut, eigenständig zu denken, unser Denken sich frei entfalten zu lassen, haben wir den Mut, auf unser Herz zu hören, zu verstehen, was es bewegt. Entwickeln wir wieder mehr eigene Meinungen, schreiben wir eigene Zitate, finden wir eigene Worte - nichts kann unser Gegenüber mehr bewegen, denn unsere Worte sind eben auch subjektiv, sind mit eigenen Emotionen hinterlegt, kommen auch uns unserem zeitlichen Kontext, quasi tagesaktuel. Sie sind nicht recycelt und wirken daher um ein vielfaches mehr, stärker, eben authentischer...

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